Alte Mythen & Legenden der Indianer – Geschichten, die jahrhundertealt sind


Die Mythen und Legenden der indigenen Völker Nordamerikas sind keine bloßen „Märchen“ oder einfache Geschichten zur Unterhaltung. Sie sind das lebendige Gedächtnis von Kulturen, verschlüsselte Landkarten, ethische Anleitungen und kosmologische Abhandlungen, die über Hunderte, teils Tausende von Jahren durch mündliche Überlieferung bewahrt wurden. Jede dieser Geschichten trägt Schichten von Bedeutung – sie erklärt den Ursprung der Welt, lehrt den Respekt vor der Natur, kodiert das Wissen über Tiere und Pflanzen und definiert, was es bedeutet, in einer Gemeinschaft zu leben. Diese Reise führt uns tief in die narrative Weisheit der Ersten Nationen.

Die grundlegende Funktion: Warum diese Geschichten erzählt werden

In indigenen Kulturen sind Mythen niemals nur „Geschichten von damals“. Sie sind instrumentelle, gegenwärtige Realitäten mit konkreten Funktionen:

  1. Pädagogik: Sie vermitteln komplexe moralische und soziale Werte auf eingängige, merkfähige Weise.
  2. Kosmologie: Sie erklären die Entstehung der Welt, der Menschen, der Tiere und der natürlichen Phänomene.
  3. Recht und Geschichte: Sie begründen Landansprüche, Clan-Zugehörigkeiten und vertragliche Beziehungen zwischen Völkern.
  4. Identität: Sie beantworten die Frage: „Wer sind wir?“ und schaffen einen einzigartigen kulturellen Charakter.
  5. Ökologische Weisheit: Sie kodieren detailliertes Wissen über das Verhalten von Tieren, die Eigenschaften von Pflanzen und die Zeichen der Jahreszeiten.

Die Trickster-Figur: Der ambivalente Lehrer

Eine der faszinierendsten und häufigsten Figuren in indianischen Mythen ist der Trickster. Er ist kein „Bösewicht“ im europäischen Sinne, sondern ein ambivalenter, grenzüberschreitender Gestaltwandler, der durch seine oft dummen, gierigen oder ungezügelten Handlungen unbeabsichtigt die Regeln der Welt etabliert und wichtige Lehren hinterlässt.

Kojote (Coyote) – Der große Gestalter und Schwindler des Westens

Bei den Völkern des Plateaus und des Südwestens, wie den Navajo, Nez Percé oder Crow, ist Kojote die zentrale Tricksterfigur. In den Geschichten stiehlt er oft das Feuer für die Menschen, formt Flusstäler mit seinem Schwanz oder bringt den Tod in die Welt – meist aus Eitelkeit oder Dummheit. Seine Abenteuer lehren auf humorvolle Weise, was passiert, wenn man gierig, ungeduldig oder arrogant ist. Er ist ein Spiegel der menschlichen Natur mit all ihren Fehlern.

Häuptling Kaninchen (Rabbit) – Der kleine Listige des Südostens

Bei den Cherokee, Creek und anderen Südost-Völkern übernimmt oft das Kaninchen (oder bei den Algonkin-Völkern im Nordosten Nanabozho) die Trickster-Rolle. Obwohl klein und schwach, besiegt es durch listige Taktiken größere und stärkere Tiere wie Bär oder Wolf. Diese Geschichten ermutigen dazu, Intelligenz über rohe Kraft zu stellen und sind besonders für Kinder lehrreich.

Der kulturelle Sinn des Tricksters:

Der Trickster hält der Gemeinschaft einen Spiegel vor. Seine Eskapaden zeigen die Konsequenzen von antisozialem Verhalten, ohne einfach zu moralisieren. Er bricht Tabus, damit diese als notwendig erkannt werden. Er ist Chaos, das letztlich zu einer neuen, besseren Ordnung führt.

Schöpfungsmythen: Wie die Welt ins Gleichgewicht kam

Im Gegensatz zu einer einzigen „Genesis“-Geschichte gibt es Hunderte verschiedene Schöpfungsmythen, die jeweils die einzigartige Beziehung eines Volkes zu seiner spezifischen Heimatlandschaft widerspiegeln.

Die Navajo (Diné) und die Emergenz durch Welten

Die Navajo erzählen von einer Reise durch vier (oder manchmal fünf) untere Welten, bevor das Volk in die jetzige, die „Glänzende Welt“ (die Fünfte Welt) eintrat. In jeder Welt lernten sie etwas Neues, machten Fehler (oft verursacht durch Streit oder Tabubruch) und mussten weiterziehen, um das Gleichgewicht („Hózhǫ́“) zu suchen. Die Geschichte endet nicht mit der Ankunft, sondern betont die fortwährende Verantwortung, Hózhǫ́ durch richtiges Leben und Rituale aufrechtzuerhalten.

Die Irokesen (Haudenosaunee) und die Frau, die vom Himmel fiel

In dieser bekannten Erzählung lebt die Himmelswelt auf dem Rücken einer großen Schildkröte. Eine schwangere Himmelsfrau fällt durch ein Loch im Himmel. Wasservögel fangen sie ab und landen sie auf dem Rücken einer Schildkröte, die aus dem Urmeer taucht. Erde wird auf ihrem Rücken platziert und wächst zur heutigen Welt („Schildkröteninsel“). Die Frau gebiert Zwillinge – der rechtshändige Schöpfer und der linkshändige Zerstörer – deren Rivalität die dualistische Natur der Welt erklärt. Dieser Mythos begründet auch die zentrale Rolle der Frauen als Lebensspenderinnen in der irokesischen Gesellschaft.

Die Küsten-Salish und der Transformer

An der Nordwestküste erzählen Völker wie die Coast Salish von einer Zeit, in der die Welt noch formbar war. Ein mächtiges Wesen, der Transformer (Xáays bei den Sḵwx̱wú7mesh), reiste durch das Land und verwandelte Wesen, die sich falsch verhielten, in die heutigen Landschaftsmerkmale: einen gierigen Menschen in einen steinernen Felsen, unhöfliche Kinder in eine Gruppe von Inseln. Die Landschaft selbst wird so zu einem offenen Geschichtsbuch und ethischen Lehrpfad.

Mythen, die ökologisches Wissen bewahren

Viele Legenden sind genaue Beobachtungsprotokolle der Natur, eingebettet in narrative Form.

  • Die Legende vom Lachs: Bei nordwestlichen Küstenvölkern erzählt man, wie der Lachs einst ein Volk war, das im Meer lebte und beschloss, sich als Nahrung den Menschen an Land zu opfern, unter der Bedingung, dass seine Knochen respektvoll ins Wasser zurückgegeben werden, damit er wieder auferstehen könne. Diese Geschichte kodiert das nachhaltige Fischereiwissen und die spirituelle Dankbarkeit für die Nahrung.
  • Die drei Schwestern (Mais, Bohnen, Kürbis): Ein weit verbreiteter Mythos im Osten beschreibt drei schöne Schwestern, die untrennbar sind und sich gegenseitig stützen. Mais bietet der Kletterbohne einen Stängel, die Bohne fixiert Stickstoff im Boden für den Mais, und der Kürbis bedeckt mit seinen großen Blättern den Boden, hält ihn feucht und unterdrückt Unkraut. Dies ist eine genaue agronomische Anleitung für eine perfekte Polykultur in Geschichtsform.

Heldenepen und Monsterlegenden

Neben Trickster- und Schöpfungsgeschichten gibt es auch epische Zyklen von Helden, die die Gemeinschaft beschützen.

Die Zwillinge, die die Monster töteten (Navajo/Pueblo)

In einer gefährlichen Urzeit wurden die Menschen von Monstern bedroht. Die Heldenzwillinge Monster Slayer und Child Born of Water wurden geboren, um die Welt zu säubern. Sie erhielten magische Waffen von ihrem Vater, der Sonne, und zogen aus, um Riesen, die Menschen fraßen, rollende Felsmonster und andere Gefahren zu besiegen. Ihre Geschichte ist ein Gleichnis für den Übergang von einem chaotischen zu einem bewohnbaren, geordneten Kosmos.

Der Donnervogel (Thunderbird) der Nordwestküste

Der riesige Donnervogel, der mit dem Schlag seiner Flügel Donner und mit dem Blitzen seiner Augen Blitze erzeugt, ist mehr als ein mythologisches Wesen. Er ist der Gegenspieler des Unterwasserungeheuers (Orca oder „Seeungeheuer“). Ihr ewiger Kampf symbolisiert das notwendige Gleichgewicht zwischen den Elementen Himmel und Meer. Sein Abbild zählt zu den mächtigsten Crests (Wappen) der Clans.

Wie diese Mythen heute weiterleben und relevant sind

Die Weitergabe dieser Geschichten war durch die Residential-School-Ära und kulturelle Unterdrückung stark bedroht. Heute erleben sie eine Renaissance durch indigene Autor*innen, Filmemacher und Aktivist*innen.

  • Literatur: Autor*innen wie Leslie Marmon Silko (Laguna Pueblo) weben in ihrem Roman „Ceremony“ traditionelle Mythen direkt in die Handlung einer modernen Geschichte ein, um Heilung von kolonialem Trauma zu zeigen.
  • Recht und Souveränität: In Landrechtsprozessen werden diese alten Erzählungen zunehmend als Beweis für die uralte, kontinuierliche Verbindung eines Volkes zu einem bestimmten Gebiet anerkannt.
  • Umweltaktivismus: Die Geschichten von der Schildkröteninsel oder den drei Schwestern werden zitiert, um für nachhaltige Landwirtschaft und den Schutz von Wasser zu kämpfen. Sie bieten ein wertbasiertes Argument für Umweltschutz, das über ökonomische Kalküle hinausgeht.
  • Psychologische Resilienz: Die Trickstergeschichten, die von Fehlern und Wiederaufstehen handeln, oder die Schöpfungsmythen, die von Reisen durch dunkle Welten erzählen, bieten metaphorische Werkzeuge, um persönliche und kollektive Traumata zu bewältigen.

Wie man diese Geschichten mit Respekt liest und versteht

  1. Erkenne den kulturellen Kontext an: Eine Geschichte der Hopi ist nicht austauschbar mit einer der Lakota. Erfahre, welchem Volk sie gehört und in welcher Landschaft sie verwurzelt ist.
  2. Sieh sie nicht als „Märchen“: Vermeide es, sie als niedliche Tierfabeln abzutun. Nimm ihre Tiefe und Ernsthaftigkeit wahr.
  3. Höre indigene Stimmen: Suche nach Versionen, die von indigenen Geschichtenerzählern, Ältesten oder Autor*innen aufgeschrieben oder erzählt wurden.
  4. Verstehe sie als Teile eines Ganzen: Oft sind einzelne Geschichten Teil eines riesigen, miteinander verbundenen Zyklus. Sie isoliert zu lesen, kann ihren Sinn verkürzen.
  5. Reflektiere ihre heutige Botschaft: Frage dich: Was sagt diese uralte Geschichte über Gier, Gemeinschaft, Respekt oder Gleichgewicht, das für unsere heutige Welt relevant ist?

Fazit: Die ungebrochene Stimme des Landes

Die alten Mythen und Legenden der indigenen Völker Amerikas sind nicht stumme Relikte, sondern lebendige, atmende Wesenheiten. Sie sind die Stimme der Flüsse, die von ihrer Entstehung erzählen, das Gedächtnis der Berge, das von ihren Transformern spricht, und die Weisheit der Ältesten, kodiert in den Abenteuern von Kojote und Kaninchen.

In einer Zeit der ökologischen Krise und des tiefen gesellschaftlichen Wandels bieten diese Geschichten mehr als folkloristische Unterhaltung. Sie bieten einen Kompass aus der Tiefe der Zeit: Sie erinnern uns an die Verantwortung gegenüber dem Land, lehren die Kraft von Resilienz und List in schwierigen Zeiten und feiern das komplexe, heilige Gleichgewicht, das allen Dingen innewohnt. Sie zu hören – wirklich zu hören – bedeutet, eine Jahrtausende alte Konversation fortzusetzen über das, was es bedeutet, menschlich zu sein, in Beziehung zu einer lebendigen, beseelten Welt.

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