Repatriierung von Artefakten und Gebeinen: Warum Museen menschliche Überreste zurückgeben müssen

In den Depots und Ausstellungen weltweiter Museen liegen Millionen indigener Artefakte und tausende menschliche Gebeine, die während der Kolonialzeit erworben wurden. Die Repatriierungsbewegung fordert nicht nur die Rückgabe dieser Objekte, sondern eine grundlegende ethische Neuausrichtung im Umgang mit kulturellem Erbe und menschlichen Überresten. Eine Untersuchung der historischen, rechtlichen und moralischen Dimensionen dieser dringenden Angelegenheit.

Das Ausmaß des Problems: Zahlen und Geschichten

Die Dimensionen der Nicht-Rückgabe sind erschütternd und belegen ein systemisches Unrecht.

  • Menschliche Überreste: Allein in deutschen Museen schätzt man 10.000-20.000 indigene Gebeine
  • Beispiel: Berlin: Über 7.000 menschliche Überreste im Ethnologischen Museum
  • Beispiel: Wien: Weltmuseum hält 2.000 indigene Gebeine
  • Sakrale Objekte: Zehntausende zeremonielle Gegenstände in europäischen und nordamerikanischen Museen
  • Grabfunde: Komplette Grabausstattungen, oft ohne Konsultation der Nachfahren entnommen

Historischer Kontext: Wie kamen die Objekte in die Museen?

Kolonialer Sammelwahn (19.-frühes 20. Jahrhundert)

  1. Wissenschaftlicher Rassismus: Craniometrie und rassen“wissenschaftliche“ Sammlungen
  2. Grabräuberei: Systematische Plünderung von Friedhöfen und heiligen Stätten
  3. Unfaire „Käufe“: Ausbeutung in kolonialen Machtverhältnissen
  4. Kriegsbeute: Nach militärischen Aktionen geraubte Objekte
  5. Missionarsaktivismus: Zerstörung „heidnischer“ Objekte oder Versendung nach Europa

Die Rolle der Anthropologie und Ethnologie

Wissenschaftliche Disziplinen legitimierten die Sammlung menschlicher Überreste als notwendig für die Forschung.

  • „Verschwindende Rassen“: Sammeln bevor indigene Völker „aussterben“
  • Dehumanisierung: Behandlung von Gebeinen als Objekte, nicht als Menschen
  • Fehlende Einwilligung: Keine Zustimmung der Gemeinschaften oder Nachfahren
  • Andauernde Praxis: Einige Sammlungen wuchsen bis in die 1970er Jahre

Die ethische Argumentation für Rückgaben

1. Menschenwürde und kulturelle Kontinuität

Für indigene Gemeinschaften sind Ahnen keine musealen Exponate.

  • Spirituelle Verbindung: Ahnen bleiben Teil der lebendigen Gemeinschaft
  • Trauerprozess unterbrochen: Unmöglichkeit angemessener Bestattungsrituale
  • Kulturelles Trauma: Fortdauernde Verletzung durch die Aufbewahrung
  • Menschenrecht: Recht auf würdevolle Behandlung der Toten

2. Selbstbestimmung und kulturelle Souveränität

Wer kontrolliert kulturelles Erbe? ist eine Frage der Macht und Souveränität.

  • Koloniale Kontinuität: Westliche Institutionen behalten Kontrolle über indigenes Erbe
  • Wissenssysteme: Indigene Entscheidungen über Bedeutung und Umgang mit Objekten
  • Heilungsprozess: Rückgabe als Schritt zur Wiederherstellung kultureller Integrität
  • Politische Anerkennung: Respekt vor indigenen Regierungssystemen und Entscheidungsprozessen

3. Recht auf Geschichte und Identität

Kulturelle Objekte sind nicht nur „Kunst“ – sie sind Träger von Wissen, Geschichte und Identität.

  • Lernen für jüngere Generationen: Objekte als pädagogische Werkzeuge in Gemeinschaften
  • Kulturelle Revitalisierung: Traditionelles Wissen aus Objekten rekonstruieren
  • Identitätsstiftung: Verbindung zu kulturellen Praktiken und Geschichte
  • Verlust von Bedeutung: Im Museumskontext verlieren Objekte oft ihre ursprüngliche Bedeutung

4. Wissenschaftliche Ethik im Wandel

Die wissenschaftliche Gemeinschaft erkennt zunehmend ihre historische Verantwortung.

  • Informed Consent: Moderne ethische Standards verlangen Zustimmung
  • Gemeinschaftsbasierte Forschung: Neue Paradigmen der Zusammenarbeit
  • Rückwirkende Ethik: Anwendung heutiger Standards auf historische Sammlungen
  • Alternativen zur Besitzung: Digitale Archive, Leihgaben, Kopien

Rechtliche Rahmenbedingungen und Durchbrüche

Das US-amerikanische NAGPRA (1990)

Der Native American Graves Protection and Repatriation Act war ein Meilenstein.

  1. Verpflichtende Inventarisierung: Museen müssen menschliche Überreste und kulturelle Objekte erfassen
  2. Rückgabeprozess: Stämme können Rückgabe beantragen
  3. Erfolge: Über 1.7 Millionen Objekte und 57.000 menschliche Überreste zurückgegeben
  4. Grenzen:
    • Gilt nur für US-Bundesinstitutionen
    • Private Museen teilweise ausgenommen
    • Kulturelle Zugehörigkeit manchmal schwer nachweisbar

Internationale Abkommen

  • UN-Erklärung der Rechte indigener Völker (2007): Artikel 12 – Recht auf Rückführung von Gebeinen
  • UNIDROIT-Konvention (1995): Rückgabe illegal ausgeführter Kulturgüter
  • UNESCO-Konvention (1970): Verbot des illegalen Handels mit Kulturgut
  • Nationale Gesetze: Kanada, Australien, Neuseeland haben ähnliche Regelungen entwickelt

Die europäische Situation

Europa hinkt in der Repatriierungsdebatte hinterher.

  1. Fehlende einheitliche Gesetze: Jedes Land, oft jedes Museum eigene Politik
  2. Besitzansprüche: Museen verweisen auf rechtmäßigen Erwerb (oft nach damaligem Recht)
  3. „Universalmuseum“-Argument: Objekte als „Welterbe“ unter „universaler“ Obhut
  4. Langsame Bewegung: Einzelne Rückgaben, aber keine systematische Politik

Argumente gegen Rückgaben und ihre Widerlegung

„Wissenschaftlicher Wert“ vs. Menschenrechte

Argument gegen Rückgabe Entgegnung
„Forschung benötigt die Objekte“ Nicht-destruktive Methoden, Digitalisierung, Forschung mit Gemeinschaftszustimmung
„Wissenschaftlicher Fortschritt für alle“ Forschung sollte nicht auf Menschenrechtsverletzungen basieren
„Zukünftige Forschungstechnologien“ Ethische Grenzen gelten auch für zukünftige Forschung

„Universales Erbe“ vs. kulturelle Souveränität

  • Kolonialer Universalismus: Die Annahme, westliche Museen seien beste Hüter aller Kulturen
  • Doppelstandards: Europäische menschliche Überreste werden nicht ähnlich behandelt
  • Teilen vs. Besitzen: Objekte können durch Leihgaben, Digitalisierung, Kopien geteilt werden
  • Partnerschaftliche Lösungen: Gemeinsame Kuratierung statt einseitiger Kontrolle

„Rechtmäßiger Erwerb“ im historischen Kontext

Das Argument des „rechtmäßigen Erwerbs“ ignoriert koloniale Machtungleichheiten.

  • Unfreie Zustimmung: „Kauf“ unter kolonialer Herrschaft oder Krieg
  • Fehlende Autorität: Verkäufer hatten oft kein Recht, heilige oder gemeinschaftliche Objekte zu verkaufen
  • Ethische Rückschau: Heutige ethische Standards auf historische Handlungen anwenden
  • Wiedergutmachung: Auch wenn damals „legal“, heute ethisch nicht vertretbar

Erfolgreiche Repatriierungen: Modelle und Beispiele

Die Rückgabe der Maori-Köpfe (Toi moko)

Mumifizierte Māori-Köpfe waren besonders begehrte „Sammelobjekte“.

  • Ausmaß: Hunderte in europäischen Museen
  • Kampagne: Jahrzehntelange Forderungen der Māori
  • Erfolge: Frankreich, Großbritannien, Deutschland gaben Köpfe zurück
  • Prozess: Komplexe Verhandlungen, oft mit Widerstand der Museen
  • Heutiger Status: Viele Köpfe zurück, aber noch nicht alle

Rückführungen aus deutschen Museen

  1. Lübeck an Hawaii (2017): Rückgabe von 2 Māori-Köpfen und hawaiianischen Objekten
  2. Stuttgart an Namibia (2019): Rückgabe von Gebeinen aus der Kolonialzeit
  3. Berlin (laufend): Langsame Prozesse, oft mit Widerstand
  4. Gründe für Verzögerungen: Bürokratie, „Forschung“, Besitzansprüche

Die Smithsonian Institution als Modell?

Das National Museum of the American Indian hat eine proaktive Rückgabepolitik.

  • Eigene Repatriierungsabteilung: Seit 1989 aktiv
  • Über 2.000 menschliche Überreste an 160 Gemeinschaften zurückgegeben
  • Prozess: Gemeinschaften entscheiden über Behandlung nach Rückgabe
  • Herausforderungen: Auch hier Verzögerungen und bürokratische Hürden

Praktische Herausforderungen der Repatriierung

1. Identifizierung und Provenienzforschung

  • Unvollständige Dokumentation: Koloniale Sammler dokumentierten oft unzureichend
  • Kulturelle Zugehörigkeit bestimmen: Welcher heutigen Gemeinschaft gehören Objekte/Gebeine?
  • Ressourcenintensive Forschung: Erfordert Zeit, Geld, spezialisiertes Wissen
  • Indigene Wissenssysteme einbeziehen: Mündliche Geschichte neben schriftlicher Dokumentation

2. Logistik und Finanzierung

  1. Kosten der Rückgabe: Transport, Versicherung, Zeremonien
  2. Wer zahlt?: Oft erwartet man, dass Gemeinschaften Kosten tragen
  3. Infrastruktur in Gemeinschaften: Angemessene Aufbewahrung oder Bestattung
  4. Nachhaltige Lösungen: Langfristige Finanzierungsmodelle

3. Kulturell angemessene Prozesse

Rückgabe muss nach indigenen Protokollen erfolgen.

  • Spirituelle Begleitung: Älteste und traditionelle Heiler einbeziehen
  • Angemessene Behandlung: Spezifische kulturelle Protokolle für verschiedene Objekttypen
  • Gemeinschaftsentscheidungen: Nicht-indigene Institutionen bestimmen nicht über Nach-Rückgabe-Behandlung
  • Zeitliche Flexibilität: Indigene Zeitvorstellungen respektieren

Die Rolle von Museen im 21. Jahrhundert

Museen müssen sich von Besitzern zu Vermittlern wandeln.

Neue Modelle der Zusammenarbeit

  1. Co-Curation: Gemeinsame Ausstellungen mit indigenen Gemeinschaften
  2. Digitale Rückgabe: 3D-Scans für Forschung, Originale zurückgeben
  3. Langfristige Leihgaben: Objekte für bestimmte Zeit in Gemeinschaften
  4. Community Fellowships: Indigene Forscher in Museen
  5. Transparente Provenienzforschung: Gemeinsame Erforschung der Herkunft

Ethische Sammlungspolitik entwickeln

  • Keine menschlichen Überreste mehr sammeln: Ethisches Moratorium
  • Strenge Erwerbspolitik: Nur mit voller informierter Zustimmung
  • Proaktive Rückgabe: Nicht auf Anträge warten, sondern aktiv anbieten
  • Offene Inventare: Transparente Listen aller menschlichen Überreste
  • Bildungsarbeit: Öffentlichkeit über koloniale Sammlungsgeschichte aufklären

Was du als Museumsbesucher*in tun kannst

Öffentlicher Druck kann Veränderungen beschleunigen.

  • Kritische Fragen stellen: Provenienz, Zustimmung, Rückgabepolitik erfragen
  • Social Media nutzen: Auf nicht zurückgegebene menschliche Überreste aufmerksam machen
  • Unterstützung signalisieren: Museen mit guter Rückgabepolitik unterstützen
  • Bildungsarbeit: Andere über die Problematik informieren
  • Politisch aktiv werden: Für Gesetze zur verpflichtenden Rückgabe eintreten

Fazit: Von kolonialen Trophäen zu geheilten Beziehungen

Die Repatriierung von Artefakten und menschlichen Überresten ist keine Frage der Großzügigkeit von Museen, sondern eine der Gerechtigkeit und Menschenwürde. Sie markiert einen notwendigen Schritt in der Aufarbeitung kolonialen Unrechts und der Wiederherstellung kultureller Integrität indigener Völker.

Museen stehen an einem Scheideweg: Sie können weiter als Hüter kolonialer Beute agieren oder sich zu Partnern in Heilungsprozessen wandeln. Die Rückgabe ist nicht das Ende, sondern der Beginn neuer Beziehungen – Beziehungen, die auf Respekt, Gleichberechtigung und echter Partnerschaft basieren.

Jedes zurückgegebene Objekt, jeder zurückgeführte Ahne ist nicht nur eine Korrektur historischen Unrechts, sondern eine Investition in eine gerechtere Zukunft – eine Zukunft, in der alle Kulturen über ihr eigenes Erbe bestimmen können.

Die Frage ist nicht ob Museen zurückgeben müssen, sondern wie schnell und respektvoll sie es tun. Denn solange indigene Ahnen in musealen Depots liegen, bleiben unsere Museen Monumente kolonialer Gewalt statt Orte wahrer menschlicher Begegnung.

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