„Meine Großmutter war in einer Residential School“: Ein Interview zur transgenerationalen Trauma

Dieses bewegende Interview enthüllt die verborgenen Wunden, die über Generationen weitergegeben werden. „Wenn ich an meine Kindheit denke, sehe ich die Schatten, die meine Großmutter ihr ganzes Leben lang begleitet haben“, beginnt Sarah Littlebear unsere Unterhaltung. Ihre Geschichte öffnet ein Fenster in die transgenerationale Traumatisierung durch Residential Schools in Kanada – ein Erbe des Schmerzes, das bis in die dritte Generation wirkt.

Einleitung: Die unsichtbaren Ketten der Vergangenheit

Die kanadischen Residential Schools waren mehr als nur Bildungseinrichtungen. Sie waren Werkzeuge einer systematischen Assimilationspolitik, die darauf abzielte, „das Indianer im Kind zu töten“. Was jedoch oft übersehen wird, sind die langfristigen Folgen für die Nachkommen der Überlebenden.

„Ich kannte meine Großmutter nur als gebrochene Frau“

Sarah Littlebear, 42, Sozialarbeiterin und Mitglied der Cree First Nation, teilt ihre persönliche Geschichte mit uns.

Interviewer: Sarah, was ist Ihr frühestes Bewusstsein für das Trauma Ihrer Großmutter?

Sarah: „Ich erinnere mich, dass sie nie sang. In unserer Kultur ist Gesang so zentral – für Zeremonien, zur Heilung, um Geschichten zu erzählen. Später verstand ich: Ihr war das Singen in der Schule ausgetrieben worden. Sie hatten ihnen gesagt, ihre Lieder seien teuflisch.“

Die Residential Schools: Ein System der Zerstörung

Von den 1880er Jahren bis 1996 betrieb die kanadische Regierung zusammen mit Kirchen über 130 Residential Schools für indigene Kinder. Schätzungsweise 150.000 First Nations, Inuit und Métis-Kinder wurden ihren Familien entrissen.

Systematische kulturelle Zerstörung:

  • Verbot indigener Sprachen
  • Unterdrückung traditioneller Spiritualität
  • Zwangsweise Christianisierung
  • Entfremdung von Familien und Gemeinschaften
  • Systematische Unterdrückung kultureller Identität

„Sie sprach nie direkt darüber – aber ihr Schweigen war laut“

Interviewer: Hat Ihre Großmutter je direkt über ihre Erfahrungen gesprochen?

Sarah: „Nie. Das war Teil des Traumas. Aber ihre Handlungen sprachen Bände. Sie hatte panische Angst vor Autoritätspersonen. Sie zuckte zusammen, wenn jemand laut sprach. Sie konnte keine Zuneigung zeigen – Umarmungen waren ihr fremd. In der Schule hatten sie ihnen beigebracht, dass Berührung sündig sei.“

Die zweite Generation: Eltern, die nie Elternsein lernen durften

Sarahs Mutter wuchs als Kind einer Residential School-Überlebenden auf – mit tiefgreifenden Konsequenzen.

Sarah: „Meine Mutter kannte kein Modell für Mutterschaft. Ihre Mutter hatte nie gelernt, wie man Kinder tröstet, wie man bedingungslose Liebe zeigt. Also wiederholten sich einige Muster – die emotionale Distanz, die Schwierigkeit mit Zuneigung.“

Transgenerationales Trauma: Die Wissenschaft des weitergegebenen Schmerzes

Die transgenerationale Traumatisierung bei First Nations ist heute wissenschaftlich anerkannt. Die Mechanismen sind komplex und vielschichtig.

Übertragungswege des Traumas:

  • Epigenetische Veränderungen: Trauma kann Genexpression verändern
  • Erlernte Verhaltensmuster: Überlebensstrategien werden weitergegeben
  • Unterbrochene Erziehungstraditionen: Verlust kultureller Erziehungswissen
  • Soziale und wirtschaftliche Folgen: Systemische Benachteiligung perpetuiert Trauma

„Ich trug den Schmerz, ohne seine Quelle zu kennen“

Interviewer: Wann begannen Sie, die Verbindung zu verstehen?

Sarah: „Erst in meinen Zwanzigern. Ich kämpfte mit Depressionen, Angstzuständen – obwohl ich eine ‚gute Kindheit‘ hatte. In der Therapietradition meines Volkes begann ich zu verstehen: Ich trug Wunden, die nicht mir gehörten. Das war ein schockierender und gleichzeitig befreiender Moment.“

Heilungswege: Vom Trauma zur Transformation

Sarahs Weg zur Heilung führte sie zurück zu ihren kulturellen Wurzeln.

Sarah: „Die Wiederentdeckung unserer Traditionen wurde meine Medizin. Das Erlernen unserer Sprache, die Teilnahme an Zeremonien, das Verstehen unserer Schöpfungsgeschichten – dies alles gab mir zurück, was die Schulen meiner Großmutter genommen hatten.“

Kulturelle Wiederbelebung als Heilmittel

Für viele Nachkommen von Residential School-Überlebenden wird die Rückkehr zu kulturellen Traditionen zum zentralen Heilungsweg.

Heilungspraktiken:

  • Sprachwiederbelebung: Wiedererlernen der indigenen Muttersprache
  • Traditionelle Zeremonien: Schwitzhütten, Visionssuche, Sonnentanz
  • Kunst und Handwerk: Perlenarbeit, Weben, traditionelles Handwerk
  • Gemeinschaftliche Unterstützung: Healing Circles und Unterstützungsgruppen

Die Rolle der Truth and Reconciliation Commission

Die kanadische Wahrheits- und Versöhnungskommission (2008-2015) dokumentierte die Gräuel der Residential Schools und leitete einen nationalen Heilungsprozess ein.

Sarah: „Die TRC gab uns eine offizielle Geschichte. Sie bestätigte, was unsere Familien immer wussten. Das war wichtig – es entlastete uns von der Bürde, beweisen zu müssen, dass das Unrecht wirklich stattfand.“

„Ich heile für meine Tochter – und für meine Großmutter“

Interviewer: Was bedeutet Heilung für Sie heute?

Sarah: „Ich heile nicht nur für mich. Ich heile für meine Tochter, damit sie frei von diesem Erbe aufwachsen kann. Und ich heile für meine Großmutter – für das kleine Mädchen, das sie war, dem seine Kindheit gestohlen wurde. In meiner Heilung finde ich Gerechtigkeit für sie.“

Unterstützung für Betroffene: Ressourcen und Hilfsangebote

Für Menschen, die ähnliche Erfahrungen machen, gibt es zunehmend Unterstützung.

Hilfsangebote in Kanada:

  • Indian Residential Schools Crisis Line
  • First Nations and Inuit Hope for Wellness Help Line
  • Kulturelle Healing Centers in vielen Gemeinden
  • Trauma-informierte Therapie mit kultureller Sensibilität

Fazit: Vom Überleben zum Leben

Sarahs Geschichte endet mit einem Bild der Hoffnung.

Sarah: „Letztes Jahr lernte ich ein traditionelles Wiegenlied unserer Nation. Als ich es meiner Tochter vorsang, weinte ich. In diesem Moment spürte ich: Der Kreis beginnt sich zu schließen. Die Liebe, die meiner Großmutter verweigert wurde, fließt jetzt zu ihrer Urenkelin.“

Ihre Geschichte erinnert uns daran, dass transgenerationale Traumata überwunden werden können – durch Bewusstsein, Mitgefühl und die mutige Entscheidung, den Kreislauf zu durchbrechen.

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